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Nachricht in die Heimat

 

Liebe Freunde,

an Ostern habt ihr alle brav angerufen, wie sich das für gute Freunde ja auch so gehört. Dafür bedanken wir uns nochmals.

Tja, und dann, dann hat Marita doch glatt weg verlangt, dass ich ab und zu einen Brief schreibe. Das könnte man von guten Freunden erwarten! Hat sie gesagt!
Jetzt ist die Sache halt so, dass ich mich schlecht rausreden kann mit „keine Zeit“ und dann kommt erschwerend hinzu, dass Andreas uns ein wundervolles Care-Paket für arme Rentner mitgegeben hat. Wenn ich mich jetzt einfach so drücke, hat das vielleicht unangenehme Repressalien zur Folge, z.B. ein Care-Paket ohne Süßes, oder noch schlimmer, gar kein Nothilfe-Päckchen, und das können sich arme Rentner ja nun wirklich nicht leisten.
Also denke ich mir, was ich an der Wochenration Schoko gespart habe, könnte ich vielleicht in Briefmarken umsetzten, aber ich könnte natürlich auch meinem Spatzel einen Cubi Vin rouge streichen. Die Idee gefällt mir eigentlich auch besser. Oder vielleicht sollte ich die Erdbeeren für die „Bolle“ nur noch im Sonderangebot kaufen und John auf halbe Ration setzen. Der Kerl wirkt auf meine Bowle-Schüssel wie ein veritabler Schwamm. So gut, so schön, also hier meine neusten Mitteilungen:


Solltet ihr glauben es ginge mir gut?
Totaler Irrtum!
Bin grauenhaft im Stress.
Los ging das ganze bereits mit meinem neuen Reisebericht. Zu Hause hatte ich wenig Zeit, das wisst ihr ja. Alle Schreiberei musste ich auf dem Schiff machen. Schlecht vorbereitet wie ich war, alle wichtigen Unterlagen durfte ich ja nicht mitnehmen, wegen der vielen Tonnen Gewicht, Papier ist schwer, sagt mein Spatzel, und Bier und Wein und Dosenwurst ist wichtiger, sagt mein Spatzel. Und was mein Spatzel sagt, das stimmt, weil mein Spatzel ist der Kapitän, und nach § 1 hat der Kapitän immer Recht, das wisst ihr doch noch? Also, nicht so gut vorbereitet, mussten meine grauen Zellen doppelt arbeiten, meine Finger fleißig sein wie Bienchen und meine Äuglein waren total ausgelastet mit lesen und gucken. Ich sag doch: Stress!! Chantal hat sich ausgebeten, dass ich mehr über Leute schreibe, die wir so treffen, Manfred hat die Augen verdreht bei jeder neuen alten Geschichte, die ich über die Mosel ausgegraben habe und behauptet ich würde keinen Reisebericht mehr, sondern ein Geschichtsbuch schreiben.
Auf der andren Seite war er bis ins Innerste erschüttert, dass ich euch, ja euch, durch die Scheiße gezogen habe und all diese wunderbaren Einfälle musste ich sofort wieder löschen.
Das hat meinen schriftstellerischen Freiraum schon zutiefst erschüttert und an den Festen meiner dichterischen Freiheit gewackelt und tiefe Risse hinterlassen. Soll man’s mal einem Recht machen!
Die mir selbst gestellte Aufgabe, nämlich einen Römer 2000 Jahre vor uns diese Reise machen zu lassen, hat mir ganz den Rest gegeben. Zwei Kapitel hatte ich schon geschrieben, wundervolle Kapitel. Mein Marcus kam mit seiner Centurie vom Danube, machte im Kastell in Bingium Station, ritt dann die Nawa hinauf nach Crucenia und traf dort ein paar wundervolle alte Freunde.
Andrasus mit seiner griechisch blonden Frau Rittama, für die Körperertüchtigung Lebensinhalt ist, oder Hermanicus mit seiner gallischen Frau Chanteline, der noch lieber trinkt als isst, oder den kleinen dicken Baumeister Carolus Henricus, der eine junge Teutonin mit Brüsten so prall wie reife Melonen geheiratet hat. Natürlich auch Manfredus und seine Frau Dorana, deren Zunge schärfer ist als ein zweiseitig geschliffnes Schwert. Wirklich wundervolle Kapitel, doch habe ich wieder verworfen. War alles zu lang. Hätte einen Roman für sich gegeben. Also hab ich mir eine neue Figur ausgedacht: Proavus, den Ur-ur-Großvater, der seinem Enkel die Geschichte der Römer erzählt, 2000 Jahre vor unserer Zeit. Solltet ihr aber glauben, dass das einfacher ist? Fehlanzeige! Vielleicht werde ich die Römer gänzlich aus unserem Leben streichen. Manfred konnte die Italiener noch nie so richtig leiden. Und der blutrünstige Kram in der Arena war ja wohl auch nicht die feine englische Art.
Apropos englisch , dass wir John getroffen haben, hab ich doch hoffentlich erzählt. Ach, ja der Schwamm, na ja bei all dem Stress kann man ja mal was vergessen.

Habt ihr eigentlich alle noch unseren Kanal-Plan? Wenn ja, Finger auf den Rhein und ab geht’s!
Rhein runter, Mosel rauf, hinter Toul in den Canal de l’est und in Corre in die Saône. Da sind wir jetzt.
Natürlich habe ich dafür gesorgt, dass ihr wisst was unterwegs so alles passiert ist, warum zum Beispiel in Kochem die Revolution Anno 48 nicht so ordentlich durchgeschlagen hat, oder in Moselkern, dass da aus der Revolution nichts geworden ist, das war einwandfrei dem Bäbbche sein Schuld, aber das werdet ihr ja wohl oder übel nachlesen müssen.
Ohne irgendwelche Widrigkeiten haben uns die Franzosen ins Land gelassen.
Hätten sie vielleicht noch mal drüber nachgedacht, wüssten sie, dass ich dieses Jahr nicht über Frankreich, seine Geschichte und das Land allgemein geschrieben habe, sondern über die Franzosen als „der französische Mensch, das unbekannte Wesen“.

Hier eine kurze Kostprobe:
Wieso weigern sich die Franzosen so zu sein wie wir?
Warum fällt es dem Franzosen so schwer in der Entwicklung von Schlamperei zur Hygiene das menschliche Glück zu erblicken?
Warum streifen sie lieber in einem unordentlichen und altmodischen Paradies umher, als in einer blitzblanken Musterwelt?
Warum geben sie dem Fortschritt der Idee vor der Idee des Fortschritts den Vorzug?
Wieso wollen sie nicht zugeben, dass jeder Franzose eine handgearbeitete Seele in sich trägt, die häufig jedoch von zweifelhafter Qualität ist?
Können sie nicht erkennen, dass selbst die edelsten Empfindungen Gefahr laufen eines Tages in Serie hergestellt zu werden?
Warum finden sie es richtiger, dass in Frankreich der Wagen der Zeit aufgerissene Polster hat, aus denen das Rosshaar herausschaut und davor lediglich ein kleines franziskanisches Eselchen gespannt ist, während er anderswo auf Schienen läuft und elektrisch betrieben ist, auch wenn ihn ein Schild „ Ausspucken verboten“ ziert?
Können die Franzosen nicht den Unterschied zwischen einem vollkommenen System der sozialen Fürsorge und einem unerschöpflichen Vorrat an vin rouge und baguette erkennen?
Wieso glauben die Franzosen Ordnung in ihrem Kopf zu haben, wenn doch auf ihren Bahnhöfen die pure Unordnung herrscht?
Wissen die Franzosen nicht, dass der Mensch nur glücklich ist wenn er arbeitet oder einen höheren Zweck erfüllt?
Wieso können sie dann glücklich sein, wenn sie unter Missachtung dieses Zwecks sich einen guten Tag machen, den Laden schließen, die Kunden verjagen, den Stuhl vor die Haustür auf die Straße rücken, um den ersten Stern zu erwarten?
Wie nur kommen sie auf die Idee, dass die Maschine, die zur Beschaffung freier Zeit des Menschen erfunden wurde, keine göttliche Verehrung braucht?
Wie ist es den Franzosen gelungen, die Idee der Menschlichkeit in eine französische umzuwandeln?
Wie können sie Gallikanismus und mystischen Nationalismus unter dem Hut des Patriotismus vereinigen?

Alles Fragen, auf die ich immer noch keine Antwort gefunden habe.

Vielleicht findet ihr denn eine Antwort, Oder ihr wartet einfach ab und lest die Antworten, die ich gefunden habe, so dilettantisch sie auch anmuten mögen.
Sollte einen von euch trotz aller Vor- und Umsicht aber auch mal ein Geistesblitz treffen, Anruf genügt, ich brauche jede Art von Inspiration. Und natürlich Trost und Zuspruch in diesen unseren Zeiten der sozialen Härte im feindlichen Ausland.
Bis wir uns denn die nächsten Briefmarken vom Munde absparen konnten, lasst es euch gut gehen.

Doris und Manfred




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